„Gast 3 will dem privaten Chat beitreten.“, ploppt es in einem kleinen Fenster auf meinem Bildschirm auf. Ich nehme noch einen Schluck Wasser und klicke auf OK. „Hallo, Gast 3.“,tippe ich auf meiner Tastatur, „Wie geht es Ihnen heute Abend?“. Es vergehen einige Momente und wie so oft, ist völlig ungewiss, was mich an diesem Abend erwartet. Man weiß noch weniger als beim Klopfen an eine Tür im Krankenhaus, denke ich, denn dort hat man oft wenigstens einen Namen auf seiner Liste, kennt die Aufgaben auf der Station, weiß womöglich sogar das Alter. Hier auf chatseelsorge.de habe ich, wenn überhaupt, einen Nickname, oft eben nur die Bezeichnung Gast und eine fortlaufend vergebene Nummer. Immer wieder kenne ich nicht einmal das Geschlecht.
Alle paar Wochen bin ich online als Seelsorger aktiv. Zweimal die Woche gibt es einen öffentlichen Chat mit einer zumeist munteren Gruppenunterhaltung, die von einem Kollegen oder einer Kollegin moderiert wird. Gleichzeitig können die Nutzerinnen und Nutzer die anwesenden Seelsorgerinnen direkt kontaktieren, abseits der Öffentlichkeit.
Immer wieder höre ich von Kolleginnen und Kollegen, das sei ja nicht echt. Nur die Güteklasse zwei der Seelsorge: All die Mimik und Gestik eines normalen Gesprächs seien doch gar nicht vorhanden. Ich gebe zu, die Sorge hatte ich am Anfang ebenfalls. Aber dann erinnerte ich mich, wie ich als Jugendlicher mit der ersten Liebe über einen Chatdienst namens ICQ schrieb, wie ich in den letzten Jahren unzählige neue Bekanntschaften und alte Freunde auf Facebook gefunden habe und so wenigstens in Ausschnitten wahrnehme, was alte Grundschulfreunde heute interessiert und bewegt. Und wie viel Konversation ich selbst heute über Messengerdienste auf meinem Smartphone absolviere.
Was mir dort in der Chatseelsorge begegnet, sind echte, ganz reale und oft an die Substanz gehende Probleme, Gedanken und Worte: Über eigene dunkle Erlebnisse und Vorhaben, vom Tod eines Familienmitglieds oder von Problemen in der Ehe. Und ich bin erstaunt wie viel implizite Emotionen man in den Worten auf dem Bildschirm erspüren kann. Wie wenig anders es dann doch manchmal ist im Vergleich zum Gespräch, bei dem mein Gesprächspartner am selben physischen Ort ist wie ich. Auch hier in der textbasierten Seelsorge, ist meine Aufgabe, meinem Gegenüber Aufmerksamkeit zu schenken, nachzufragen, in Worte zu fassen, was ungeschrieben da steht.
Und nach vielen Tastenanschlägen, erlebe ich immer wieder kleine aber gute Schritte auf dem Weg hin zu einer Verbesserung. Alles das ist real, was dort passiert. Die Begegnungen bei facebook oder in der Chatseelsorge haben genauso reale Auswirkungen auf mich und mein Gegenüber wie jede physische Begegnung.
Nach gut zwei Stunden ist die Schicht auf chatseelsorge.de vorbei. Zwei Privatchats hatte ich an diesem Abend und ich merke, dass auch das Gespräch per Chat und Tastatur immer eine ein gutes Stück Energie aufbraucht. Manchmal braucht es noch ein Gebet am Ende, für meine Klienten an diesem Abend und für mich. Um loszulassen und abzugeben, was nach dem Logout nicht mehr in meinen Händen liegt.
Chatseelsorge
Das Portal
chatseelsorge.de gibt es bereits seit 2003 und ist ein Angebot der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers in Kooperation mit der Evangelischen Kirche im Rheinland.